Flow ist ein optimaler Bewusstseinszustand, der es erlaubt, kurzzeitig massiv über sich hinauszuwachsen. Das Zeitempfinden nimmt dabei ab, der Fokus und das Leistungsvermögen steigen drastisch. Man fühlt sich wie Superman. Mit neuen Erkenntnissen kommen auch neue Methoden für mehr Flow im Alltag.
27. November 2007, 19:15 Uhr
Petersen Events Center, Pittsburgh, USA
Mein Atem wird schneller und mein Mund ist schon längst ausgetrocknet. Die Knie fühlen sich auch nicht gerade stabil an. Das Adrenalin macht sich also definitiv bemerkbar. In einem der letzten Rankings der besten College Basketball Teams der USA waren die Pittsburgh Panthers ungeschlagen auf Platz 2 mit Spielern wie DeJuan Blair und Sam Young, die ein paar Jahre später in der NBA, der weltbesten Basketballliga, auflaufen werden. Vor dem Spiel, wie immer, das typische Drumherum. Cheerleader, Maskottchen und eine Marschkapelle stellen sicher, dass die fast zehntausend tobenden Fans auch bei Laune bleiben. Es wird noch viel lauter werden. Wir, die “Underdogs” der Boston University Terriers, sind in der Höhle des Löwen (besser der Panther) angekommen. Ein Fehlpass, Airball oder ein anderer peinlicher Ausrutscher und der Spott der Masse ist uns sicher…
Fight-or-Flight
Egal ob vor einem großen Spiel, Lauf, einer hohen Welle, einer schwierigen Prüfung, einem gefährlichen Abhang, einer bröckelnden Felswand oder einem wichtigen Meeting. Unser Körper produziert in diesen Situation vermehrt Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Die Herzfrequenz und der Blutdruck steigen, die Muskeln werden stärker durchblutet, was kurzzeitig zusätzliche Energie bereitgestellt. In Fachkreisen nennt man das eine Fight-or-Flight Reaktion. Hält dieser Zustand zu lange an, läuft unser Kreislauf Gefahr zusammenzubrechen. Glücklicherweise gibt es eine Alternative.
Pittsburgh, Teil 2
Ein letztes Mal kommt unser Team vor Anpfiff zusammen. “One, two, three, together!” Game Time. Ab jetzt zählt nur noch das Spiel und die eigene Leistung. Irgendwann um diesen Zeitpunkt verstummen die Rufe der Fans, das Zeitgefühl fällt weg, ein intensiver Fokus ersetzt die noch eben verspürte Angst vor Blamage. Basketballer nennen das “Zoned in” oder “In the Zone”. Jetzt bloß nicht rauskommen…
Im Flow gibt es kein Zeitempfinden, das Ego schwindet, die Leistungsfähigkeit steigt drastisch
Wissenschaftler nennen diesen Zustand “Flow”, ein Gefühl der völligen Vertiefung in eine Tätigkeit, verbunden mit einer signifikant höheren mentalen wie physischen Leistungsfähigkeit. Flow ist durchaus kein neues Konzept und hat bereits viele Namen. Sportler sprechen von der “Zone”, Jazzmusiker von der “Pocket” (z.B. John Coltrane in obigem Video), Langstreckenläufer vom “Runner’s High”, Schauspieler von “Screen Presence” und Stand-Up Comedians von der “Forever Box”. Alle beschreiben einen Zustand höchster Konzentration, in dem Entscheidungen in Rekordzeit getroffen und eine Handlung naht- und mühelos auf die andere folgt. Nichts blockiert, nichts reibt, alles fließt. Man wird wie von einem Fluß an Kreativität und Einfallsreichtum vorangetrieben.
Jeder, der schon einmal bei einem langen Waldlauf komplett das Zeitgefühl verloren oder vor einer wichtigen Prüfung ungeahnte Reserven entdeckt und komplexe Themengebiete innerhalb weniger Stunden erschlossen hat, kennt die Erfahrung. Jedoch gibt es einen Haken. Denn wenn Flow auch ein sehr begehrenswerter Zustand ist (wer würde nicht gerne stundenlang im Flow verweilen und mit Leichtigkeit jeden Tag Höchstleistungen vollbringen?), ist er gleichzeitig einer der unfassbarsten.
Flow kommt selten und ist flüchtig
Bisher hat es niemand wirklich geschafft, Flow in einer kontrollierten Umgebung verlässlich zu erzeugen. Nach einer Erhebung der Unternehmensberatung McKinsey sind Führungskräfte zwar fünf Mal leistungsfähiger wenn im Flow, der Zustand kann aber meist nur über kurze Zeiträume gehalten werden (weniger als 10 Prozent der Arbeitszeit). (1) Die momentan führenden Köpfe auf dem Gebiet, Mihàly Csìkszentmihàlyi (sprich Miha-i Chick-sent-miha-i) und Steven Kotler, haben beide etliche Berufs- und Interessengruppen untersucht.
Die eine Gruppe, die es erstaunlich oft in Flow-ähnliche Zustände schafft sind Extremsportler. In der Tat waren die Leistungssprünge in Sportarten wie Surfen, Klettern, Snowboarden und Mountainbiken über die letzten zwei Jahrzehnte atemberaubend. Was vor einigen Jahren noch als undenkbar galt (30 Meter hohe Wellen surfen, WiSBASE und Weltraumspringen sind nur ein paar Beispiele) wird momentan Jahr für Jahr überboten.
Selbsterhaltung ist ein enorm starker Flow Trigger
Der Grund ist eigentlich ziemlich simpel. Denn in den meisten Sportarten, in der Uni und im Job ist Flow eine Art Luxus, der es uns hin und wieder erlaubt, etwas enorm Dringendes oder Faszinierendes schnell fertigzustellen. Bei den genannten Extremsportarten geht es allerdings nicht selten um Leben und Tod. Der einzige Weg, den Tücken einer hereinbrechenden Monsterwelle oder einer bröckelnden Felswand zu entgehen, ist allerhöchste Konzentration. Eine Fehlentscheidung und das wars. Der Selbsterhaltungstrieb scheint ein enorm starker Trigger für Flow zu sein.
Ein Cocktail von fünf Chemikalien liefert ein mächtiges Hochgefühl
Im Grunde ist Flow ein komplexes Zusammenspiel von fünf Neurochemikalien: Norepinephrin, Dopamin, Anandamid, Endorphine und Serotonin. (1,3) Alle fünf beeinflussen massiv unser Leistungsvermögen. Norepinephrin und Dopamin schärfen den Fokus und liefern schnelle Energie. Anandamid wirkt THC-ähnlich und beschleunigt laterales (out-of-the-box) Denken. Alle drei haben einen ungeheuren Effekt auf schnelles, kreatives Denken. Endorphine blockieren das Schmerzempfinden und Serotonin, ein beliebter Stimmungsaufheller, verhindert emotionale Talfahrten.
Zusammen schaffen diese 5 Chemikalien wohl eines der mächtigsten Hochgefühle, das der Körper alleine bewerkstelligen kann. Alle fünf Stoffe sind nicht zufällig auch in bekannten, suchtgefährdenden Drogen zu finden (seht die Grafik oben). Auch der Status des Flow macht wohl schon nach kurzer Zeit stark süchtig und könnte erklären, warum Extremsportler immer wieder ihr Leben aufs Spiel setzen und bekannte Superstars nach ihren Karrieren oft in Depressionen abdriften.
3 Techniken für mehr Flow im Alltag
Auch wenn Extremsportler besser darin zu sein scheinen, in den Flow zu kommen, prinzipiell kann es jeder. Kotler hat in seinem erst kürzlich erschienenen Buch „The Rise of Superman“ ingesamt 17 Trigger ausgemacht, die in den Flow verhelfen. Davon hebt er drei besonders hervor.
1. Eliminiere potentielle Unterbrechungen
Um in den Flow zu kommen, solltest du dich für mindestens eine Stunde am Stück auf eine individuelle Aufgabe konzentrieren. Kein Multitasking, keine Anrufe, keine E-Mails. Kotler formuliert es wie folgt: Flow follows focus.
2. Setz dich unter Druck
Fordere dich heraus und gehe Risiken ein. Flow findet sich schneller unter leichtem Leistungsdruck. Denn ist die Aufgabe zu leicht, verlierst du schnell Interesse und Aufmerksamkeit. Ist sie zu schwer, wandelt sich der Druck in Angst und du kannst keinen klaren Gedanken mehr fassen. Balance ist hier das Stichwort. Optimal sind Aufgaben, die die eigenen Fähigkeit leicht übersteigen. Dann kann man im Flow sprichwörtlich mit den Aufgaben wachsen. Ganz einfach zum Ausprobieren: Putz dir heute Abend die Zähne mit der schwachen Hand.
3. Behalte deine Ziele im Auge
Besonders bei akutem Stress hilft Meditation dabei, den Geist zu beruhigen, Ziele und Prioritäten neu zu setzen und dadurch den Fokus zu halten. Such dir ein ruhiges Plätzchen, setz dich hin, schliesse die Augen und atme für ein paar Minuten tief durch. Ich bin ein Fan der zwei Übungen unserer Yogaexpertin Isabelle. Die Wahrscheinlichkeit, in den Flow zu gelangen erhöht sich danach drastisch.
Flow Vortrag bei Quantified Self Berlin
Letzten Donnerstag habe ich als Ersatz-Speaker für einen kranken Sprecher spontan einen Vortrag über Flow zusammengestellt. Die Informationen sind sehr ähnlich wie in diesem Beitrag, aber für die audio-visuellen Lerner gibt es unten das Video.
Pittsburgh, Nachtrag
Am Ende verloren wir das Spiel gegen „Pitt“ zwar deutlich mit 80 zu 53, wir präsentierten uns aber über weite Strecken als ein würdiger Gegner. Die beeindruckende Kulisse wird mir immer in Erinnerung bleiben. Zudem wurde das Spiel auf ESPN im nationalen Fernsehen ausgestrahlt, der Traum eines jeden Athleten. Meine magere Ausbeute: 0 Punkte, 2 Rebounds und 3 Fouls in 18 Minuten Spielzeit (wen es interessiert, hier geht’s zum Boxscore). Was soll ich sagen, hätte besser laufen können…
Quellen
(1) McKinsey Quarterly – „Increasing the meaning quotient of work“, January 2013
(2) Steven Kotler – „The Rise of Superman: Decoding the Science of Ultimate Human Performance“, 2014
(3) Stephanie Vozza – „How to hack into your flow state and quintuple your productivity“, Mai 2014
3 Kommentare
Amged
Danke
Dave
Storytelling at its best. Toll!
Maximilian
Danke Dave!